MELINDA NADJ ABONJI
IM SCHAUFENSTER IM FRÜHLING
TAUBEN FLIEGEN AUF
SCHILDKRÖTENSOLDAT
Lesung und Gespräch
Mittwoch, 10. April 2019 um 19:30 Uhr
Hottingersaal, Gemeindestraße 54, 8032 Zürich
Moderation: Josef Estermann
Freier Eintritt, Kollekte, Apéro
© Gaëtan Bally/Suhrkamp Verlag
Textauszug aus 'Schildkrötensoldat':
Man hat Jenö man hat ihn an meinen Rucksack gebunden, nach zwei Kilometern, weil er nicht mithalten konnte, bei einem Trainingsmarsch -M-A-R-S-C-H- dem letzten, vor Vukovar
das Spiel, bald wird es ernst! so der Raubvogel
ja, sie haben Jenö mit Riemen liessen der Kommandant und der Leutnant ihn an meinen Rucksack festbinden, von seinen Traggurten aus an meinen Rucksack -R-Ü-C-K-E-N- Marschrekord! der Kommandant
und der Leutnant wollten einen neuen Rekord aufstellen
Kertész, du hast die Verantwortung für deinen Fettsack im Schlepptau, verstanden? jetzt kannst du ihm helfen!
Jenö lachte oder lächelte, er und ich, wir mussten vorne marschieren, hinter dem Kommandanten und dem Leutnant, und die Truppe, vierundzwanzig Mann, hinter uns
ein Morgen so frisch wie das Wasser im Gesicht
-S-P-Ä-T-S-O-M-M-E-R-
-F-R-Ü-H-H-E-R-B-S-T-
Tage, an denen sich die Jahreszeiten kreuzen, ein Tag, an dem man doch sitzen und den Tag, die aufgehende Sonne bewundern müsste
Kertész, Zigeunerfratze, Schlappschwanz, du hast die Verantwortung für deinen Fettsack im Schlepptau! so der Leutnant vor uns
oh, ich werde diesen Satz nie vergessen, nicht wegen Zigeunerfratze oder Schlappschwanz, nicht wegen Fettsack, sondern wegen Verantwortung
-V-E-R-A-N-T-W-O-R-T-U-N-G-
Kertész, du erleichterst ihm das Marschieren im eingeschlagenen Tempo!
ich habe nicht widersprochen, nein, niemand hat widersprochen, wir waren alle, alle waren wir ein einziger Antrieb, und Jenö und ich haben mitgehalten, am Anfang, wir haben sogar ein Lied
gesungen, das ich ihm beigebracht habe, über das er immer gespottet hat
"eine Knospe war ich, als ich geboren wurde, eine Rose, als ich Soldat wurde, im eigenen Dorf, da bin ich aufgeblüht, in der Kaserne, da bin ich verwelkt ..."
und der Leutnant, er hat gelacht, das ist das falsche Lied, ihr Waschlappen! und er stimmte sein Lieblingslied an, "ich marschier zu dir, ich marschier zu dir, vorn und hinten, gut bestückt, leck
ich dich wund, zu jeder Stund"
nach drei Kilometern hat Jenö nur noch laut gekeucht, ich habe ihm zugeredet, ihn mein Habundgut genannt, meinen liebsten Anhänger, ich habe ihm gut zugeredet, obwohl reden und marschieren
anstrengend ist, aber ich habe es getan, damit er weiss, damit er weiss, dass ich da bin, Jenö hat nicht geantwortet, und ich bin kurz stehengeblieben, habe ihm den Rucksack abgenommen
Biografie
Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in der Vojvodina geboren. Sie entstammt einer ungarischen Familie und verbrachte ihre ersten Jahre bei ihrer Grossmutter in Jugoslawien. Im fünften Altersjahr kam
sie zu ihren Eltern in die Schweiz.
Melinda Nadj Abonji studierte in Zürich Germanistik und Geschichte und erwarb 1997 das Lizentiat. Sie lebt als Schriftstellerin und Musikerin in Zürich.
Melinda Nadj Abonji debütierte 2004 mit dem Roman "Im Schaufenster im Frühling" im Ammann-Verlag.
2010 erschien 'Tauben fliegen auf' im Jung-und-Jung-Verlag in Salzburg und Wien. Melinda Nadj Abonji erhielt dafür sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis.
2017 erschien 'Schildkrötensoldat' bei Suhrkamp. Er wurde mit dem Schillerpreis der ZKB ausgezeichnet.
'Tauben fliegen auf" wurde bisher in neunzehn Sprachen übersetzt.
Pressestimmen
Martin Ebel in Tagesanzeiger zu 'Schildkrötensoldat':
Und in dieser Welt ist das "Glück eine Luke, aus der man an einem warmen Tag den Kopf herausstreckt. Und in der es "das Schönste ist, einen Apfel, der in den Dreck gefallen ist, aufzuheben, den
Dreck in aller Sorgfalt, von allen Seiten von ihm abzureiben, bis der Apfel einen Glanz hat wie ein windstiller See."
... stärker als die grundsätzlich-abstrakte Abrechnung mit einem Denk- und Gesellschaftssystem überzeugt die Anschauung: eines besonderen Menschen, der in diesem System unter die Räder kommt. Und
mit ihm eine ganze, friedliche, poetische und versponnene Welt.
Klaus Kastberger zu 'Tauben fliegen auf":
'Tauben fliegen auf' ist ein wirklicher Glücksfall der Literatur und wurde mehr oder weniger flächendeckend (und das ist doch einigermassen erstaunlich) auch als ein solcher rezipiert. Von der
Neuen Zürcher Zeitung bis hin zur F.A.Z., von der Welt bis zur Süddeutschen, und von der Taz bis zur Frankfurter Rundschau waren sich alle einig, die sonst so gerne unterschiedlicher Meinung
sind: Hier liegt ein Buch vor, das es gebraucht hat, nicht allein, weil es das Thema Jugoslawien in einer ganz und gar ungeschwätzigen Weise behandelt, sondern vor allem auch, weil dieses Buch,
das ja zuvorderst gar kein Jugoslawien-Buch ist, sondern eines über die Immigration in der Schweiz, Jugoslawien im Herzen trägt.
Urs Bugmann, Einführung zu 'Tauben fliegen auf':
Es ist eine Sprache, die das Erleben von innen heraus beleuchtet. Die unaufhebbare Distanz des Fremdseins schärft nicht allein das Auge der Beobachterin. Sie formt mit an der Sprache, die in
ihren musikalischen Klängen und Rhythmen, in den leicht hingemalten poetischen Bildern etwas von jener Welt und Atmosphäre bewahrt, die Heimat bleibt, auch wenn sie mit keiner Rückkehr mehr
erreicht werden kann.
Dieses Buch berührt nicht nur mit seiner Geschichte. Es ist ein Sprachkunstwerk, das auf die Worte dieselbe Aufmerksamkeit richtet, dieselbe Sorgfalt anwendet wie auf die geschickt gefügten Fäden
der Geschichte, die einmal komisch und dann wieder traurig ist. Eine weiche und anschmiegsame Sprache voller Zwischentöne trägt das Erzählen. ...
Immer ist es eine Sprache, die zwischen Meinen und Sagen keinen Unterschied kennt, die kein falsches Spiel treibt und keine leeren Fassaden aufrichtet. Es ist eine Sprache voller Leben - und
voller Zuneigung für die Menschen, von denen sie erzählt.